Die sozialen Medien sind für viele unverzichtbar geworden. Das freut die Internet-Konzerne aus dem Silicon Valley, die sich an unseren Daten bereichern. Doch gegen die Big-Data-Sammelwut formiert sich weltweit Widerstand.
Google, Facebook und Co. wissen alles über uns: welche Themen uns interessieren, Vorlieben bei der Freizeitgestaltung, die politische oder religiöse Einstellung, bevorzugte Restaurants, Musikgeschmack, der Freundeskreis sowie die sexuelle Orientierung. Eines eint die Daten-Multis: sie bieten ihre Dienste gratis an. Zumindest auf den ersten Blick.
«Nichts auf der Welt ist umsonst», so die Journalisten Stefan Aust und Thomas Ammann in ihrem Buch «Digitale Diktatur». In Wahrheit würden wir mit dem Verlust unserer Privatsphäre bezahlen. Denn die Internet-Konzerne verhökern unsere Daten an Dritte. Zu den Käufern gehören auch die Geheimdienste. Das deckte Whistleblower Edward Snowden 2013 auf. «Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist die digitale Kommunikationstechnik in der Hand von Regierungen, Geheimdiensten und Konzernen zu einem allumfassenden Überwachungsinstrument geworden», meinen Aust und Ammann. Für sie nimmt die elektronische Überwachung totalitäre Ausmasse an.
«Antworten im Zeitalter der Digitalisierung»
Um das digitale Ich zu schützen, wurde im Dezember 2016 einen Vorschlag für eine Digitalcharta der Europäischen Union lanciert. Die Digitalcharta stammt aus der Feder der ZEIT-Stiftung und bezweckt laut eigenen Angaben «Antworten zu geben auf die Frage, wie sich die Freiheit des Einzelnen im Zeitalter der Digitalisierung schützen lässt – gegenüber Staaten, aber auch gegenüber internationalen Grosskonzernen». Unterstützt wurde die Stiftung vom damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments und heutigen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, der Schriftstellerin Juli Zeh, dem Internet-Pionieren Sascha Lobo und weiteren namhaften Persönlichkeiten.
Die Charta umfasst 23 Artikel. Darin werden eine gleichberechtigte Teilhabe in der digitalen Sphäre, ein Verbot von Zensur sowie ein geregelter Umgang mit künstlicher Intelligenz gefordert. Die Digitalcharta, heisst es auf ihrer Webseite, sei ausdrücklich ein Entwurf und keine endgültige Niederschrift. «Sie soll nach Art des Internet in der Öffentlichkeit reifen.» So geschah es: Zig BloggerInnen zerpflückten die Digitalcharta. Darunter auch Bernhard Kern, der den juristischen Gehalt «schockierend schlecht» findet. Gemäss Art. 2 gilt die Charta nämlich auch gegenüber Privaten. Dies obwohl Grundrechte normalerweise nur gegenüber dem Staat gelten, und nicht gegenüber anderen BürgerInnen. «Anders als der Staat dürfen Bürger andere von der Meinungsfreiheit ausschliessen», meint Kern. Einen Troll auf Facebook zu blockieren würde also bereits die Digitalcharta tangieren. «Ist das durchdacht?», fragt Kern rhetorisch. «Sicher nicht.»
SchweizerInnen gegen Überwachung
Auch in der Schweiz wird für die Privatsphäre gekämpft. Bei der sogenannten Vorratsdatenspeicherung müssen die AnbieterInnen von Telefon- und Internetdiensten im Auftrag des Staates sämtliche Kommunikation ihrer KundInnen aufzeichnen und während sechs Monaten speichern. Für die Digitale Gesellschaft ist das ein unzulässiger Eingriff in die Grundrechte. «Heutige Handys sind zu Überwachungsgeräten mutiert», kritisiert die Organisation auf ihrer Webseite. Die Auswertung dieser Daten ermögliche tiefgreifende Rückschlüsse über soziale Kontakte sowie die Anfertigung detaillierter Persönlichkeits- und Bewegungsprofile.
Die Digitale Gesellschaft hat gegen die Vorratsdatenspeicherung Beschwerde eingereicht. In ihren Augen ist die flächendeckende Überwachung unverhältnismässig. Der Fall ist vor dem Bundesgericht hängig. Die Organisation ist gewillt, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu prozessieren. Rückenwind erhält sie von einem Urteil des europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser hat 2014 die Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt. Das Gericht beurteilte die Vorratsdatenspeicherung als unvereinbar mit der Grundrechtecharta der EU.
Vom Enthusiasmus der Überwachten
Sowohl die Politik als auch die Justiz hinken den veränderten Bedingungen hinterher. Doch es liegt auch an uns. «Das bemerkenswerte daran ist, dass die Überwachung erst durch den Enthusiasmus der Überwachten ihre ganze Wirkung entfalten kann», so die Autoren Aust und Ammann. Für sie bleibt die Frage ungeklärt, weshalb ein Fünftel der Menschheit bei der Bespitzelung der eigenen Privatsphäre so begeistert mitmacht. «Das Milliardengeschäft der sozialen Netzwerke lebt ganz überwiegend vom ungehemmten Mitteilungsdrang der Mitglieder und einer nicht zu übersehenden Neigung zum Exhibitionismus.»
Tobias Sennhauser
Dieser Artikel erschien erstmals im Magazin ZEITPUNKT.
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