Marwane steht bis zu den Knien im Meer. Das Wetter stürmt, die Temperaturen liegen knapp über dem Gefrierpunkt. Vor Marwane treibt ein überfülltes Schlauchboot. An die 80 Flüchtlinge kauern sich aneinander, in der Mitte schützend die Kinder. Neben Marwane warten ein dutzend Freiwillige an der Küste, um die Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen.
Marwane reicht einem jungen Mann die Hand und hilft ihm aus dem Boot. “Willkommen in Europa!”, begrüsst er ihn auf arabisch. Die Insassen sind durchnässt. Eilig verteilt Marwane Rettungsdecken und frische Socken. Danach rennt er zurück zum Auto. Im Kofferraum steht ein Kanister mit 40 Liter heissem Schwarztee für die Flüchtlinge bereit.
“Eine schreckliche Erfahrung”
Anders als erwartet ist der Flüchtlingsstrom im Winter kaum kleiner geworden – im Gegenteil: Laut der UNO-Flüchtlingshilfe UNHCR strandeten auf den griechischen Inseln in der Ägäis alleine im Januar über 36.000 Flüchtlinge – rund 30% mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Überfahrt ist gerade im garstigen Winter gefährlich. 2016 sollen bereits über 400 Personen ertrunken oder erfroren sein.
Auch Marwane flüchtete mit einem Schlauchboot nach Lesbos. Ein türkischer Schmuggler verlangte dafür 800 Euro. Die Überfahrt im Dezember werde er niemals vergessen. “Nach ungefähr zwei Stunden ist der Motor ausgestiegen”, erzählt Marwane. Weder die türkische noch die griechische Küstenwache hätten auf den Notruf reagiert. “Wir sassen nass in der Kälte und hatten Angst zu sterben.” Dann konnte Marwane, der gelernte Automechaniker, zusammen mit einem marokkanischen Fischer endlich den Motor reparieren. Nach fünf Stunden erreichten sie das Ziel: Europa.
Der falsche Pass
Bürgerkriege und der sogenannte Islamische Staat haben weite Teile des Nahen und Mittleren Osten destabilisiert. Laut UNHCR stammen die Flüchtlinge in Griechenland primär aus Syrien, andere kommen aus Afghanistan oder dem Irak. Sie flüchten vor Krieg und Zerstörung, sind an Leib und Leben bedroht. Für sie öffnet Europa seine Pforten.
Marwane stammt aus Marokko. Auch er sucht in Europa ein besseres Leben. “In Marokko gibt es keine Perspektiven”, so Marwane. Viele würden ihre Zeit auf der Strasse verplempern. Gemäss einer Studie des Bundesamtes für Migration von 2014 sucht fast jeder Fünfte der Jungen in Marokko Arbeit. Marwane spricht aus eigener Erfahrung. Drei Jahre sei er arbeitslos gewesen. “Selbst wer Arbeit findet, kann vom Lohn kaum leben”, sagt Marwane. In Europa will er endlich wieder arbeiten und eine Familie gründen. “Ich bin ja schon 26 Jahre alt!”
Doch das bleibt vorerst ein Traum. Die Landesgrenzen auf der Balkanroute sind für Marwane dicht. Als Marokkaner gilt er als sogenannter Wirtschaftsflüchtling – für die meisten PolitikerInnen Europas kein ausreichender Grund für Zuflucht. Wegen Schulden ist auch zurück nach Marokko keine Option. Für seine Flucht hatte Marwane einen Kredit von 3000 Euro aufgenommen.
Vom Flüchtling zum Helfer
Gestrandet in Griechenland arbeitet Marwane bei Ceriba als Flüchtlingshelfer. Die Schweizer NGO holt ankommende Flüchtlinge aus dem Wasser und verteilt trockene Kleider und Schwarztee. Sein Einsatz auf Lesbos bedeutet Marwane viel. “Ich weiss, wie es sich anfühlt, ein Flüchtling zu sein”, so Marwane. Als Araber wird er auch als Übersetzer gebraucht. “Ich erkläre allen, was sie auf der Flucht durch den Balkan wissen müssen”, meint Marwane.
Es ist dunkel geworden. Marwane blickt mit dem Fernglas aufs Meer. Plötzlich zeigt er mit dem Finger auf einen hellen Punkt, der am Horizont wackelt. “Ein Flüchtlingsboot!” Per Blitzlicht machen sie auf sich aufmerksam. Auch Marwane zückt sein Smartphone und alarmiert auf WhatsApp die anderen Freiwilligen. 10 Minuten später stehen alle bereit.
“Wir brauchen einen Arzt”, schreit Marwane. Eine ältere Frau wird wimmernd aus dem Schlauchboot getragen. Sie wird von Krämpfen geschüttelt. Die Freiwilligen legen sie auf den Rücken und dehnen ihre kontraktierten Wadenmuskeln. Marwane versorgt sie mit frischem Wasser. Dann endlich übernimmt Médecins Sans Frontières.
Weiter drüben droht ein Baby in seinen nassen Kleider zu erfrieren. Marwane entfernt sachte die nassen Kleider und verpackt es in einer Rettungsdecke. Die Prozedur dauert einige Minuten. Daneben steht zitternd der Vater und weint. Doch bald strahlt das Kind wieder. Marwane hat ihm einen Lolli in die Hand gesteckt. Er selbst pustet Seifenblasen.
Falsche Vorstellungen
Erstmals in der aktuellen Flüchtlingskrise sind mehrheitlich Frauen und Kinder unterwegs. Der Anteil der Kinder, die die riskante Überfahrt von der Türkei nach Griechenland antreten, beträgt gar 36%. Zum Vergleich: Im Juni 2015 waren noch über zwei Drittel der Flüchtlinge Männer. Diese Zahlen hat jüngst das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF veröffentlicht.
Auf Lesbos bleibt es vorerst ruhig. Hinter den türkischen Bergen hebt sich die Sonne. Marwanes Schicht endet. Auf der Heimfahrt im Auto zeigt er Fotos von seiner Kindheit. Sein Vater arbeitete in den 90ern als Diplomat in Bonn. Knapp 6 Jahre habe Marwane in Deutschland gelebt und dort den Kindergarten besucht, bevor die Familie aus beruflichen Gründen wieder nach Marokko zog. Der sonst quirlige Marokkaner wirkt plötzlich müde und traurig.
Ob er seine Flucht bereut? Marwane überlegt lange. “Hätte ich die Situation hier gekannt”, antwortet er zögerlich, “wäre ich nicht gekommen”. Schlimmstenfalls müsse er sich nun in Griechenland als Flüchtling in einem Zelt einnisten. Zwar würden ihn dann Freiwillige mit Matratzen, warmen Kleidern und Nahrung versorgen. “Doch dafür bin ich nicht gekommen.”
Tobias Sennhauser
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