Ankunft im Emmental
Als erster hebt Tamay den Kopf. Die anderen grasen weiter. Regungslos blickt er mir aus der Ferne entgegen. Bestimmt bin ich noch 200 Meter entfernt. Ich habe mich von unten her an die Weide angeschlichen. Nicht von oben, wo BäuerInnen wohnen und Wandernde vorbeiziehen.
Tamay ist gebürtiger Limousin, eine französische Rasse, die durch den braunen Teint auch für Laien erkennbar ist. Seit 1886 wird sie systematisch als Fleischrind gezüchtet. Aber das ist Tamay egal. Er fragt sich jetzt, was ich hier will.
Über eine frisch gemähte Weide schreite ich langsam zur benachbarten Bleibe der Patentiere. Bestimmt ist sie 2 Hektar gross. Es ist ruhig hier. Die Sonne steht hoch. Ab und zu rattert in der Ferne ein landwirtschaftliches Fahrzeug. Die Blätter der zahlreichen jungen Eschen rascheln im Wind.
Wie ich näher komme, wird auch Rosa auf mich aufmerksam. Sie blickt zu mir auf. Unglaublich, wie Rosa, die erst vor einem Jahr dem Schlachter entwischte, gewachsen ist!
Jedem das seine
Als ich den Zaun erreiche, kommen Rosa und Minotaurus neugierig näher. Mino lässt sich sofort am Kopf kraulen. Rosa ist weniger mutig und versteckt sich hinter ihm. Ich muss lächeln. Rosa ist tatsächlich bloss halb so gross wie der 16-jährige Ochse.
Mino ist ein Simmentaler, eine Rasse, die ursprünglich aus dem Berner Oberland stammt und im 19. Jahrhundert nach Deutschland und Österreich exportiert wurde. Bekannt sind Simmentaler als sogenannte Zweinutzungsrinder für die Milch- und Fleischproduktion.
Etwas abseits der drei stehen Odysseus und Tisane. Der pechschwarze Odi – ein 16-jähriger Evolèner aus dem Wallis – scheint mit seinen riesigen, leicht gebogenen Hörnern fast bedrohlich. Tisane dagegen ist einfarbig weiss, ihre Hörner kurz und eng am Schädel gewachsen. Was für ein Paar!
Meinen Besuch scheint die bereits 19-jährige übrigens nicht zu schätzen: Als ich mich ihr nähere, dreht sich Tisane um und trottet schnurstracks davon.
Auf Stallvisite
Da ich schon in der Region bin, nutze ich die Gelegenheit und besuche spontan einen Stall in der Nähe. Es ist eine Schweinemast. 12 Buchten. Für jede Altersklasse eine. Dutzende Schweine pro Bucht. Keines älter als sechs Monate. Ammoniak hängt in der Luft. Ab und an ein schrilles Quietschen. Keine Ahnung, wer es war.
Ein Schwein kaut an den Gitterstäben. Zwei andere raufen sich. Andere liegen dicht an dicht auf dem Spaltenboden im Schatten. Auf einen Rücken wurde ein violetter Strich gesprayt. “Schlachtreif”? Eine faustgrosse Beule hängt an einem Schweinebauch. Nur wenige scheinen mich zu bemerken. Überhaupt sehen sie alle gleich aus. Ihr “homogener Schlachtkörper” steht für züchterischen Erfolg.
Ein Zaun verwehrt mir den direkten Zugang. Gerne wäre ich näher hingegangen, um die Hand nach ihnen auszustrecken. So wie ich es bei den Rindern gemacht habe.
Kunterbunter Individualismus
Ich habe genug gesehen. Mastanlagen bieten immer das gleiche Bild. Anders die Weide mit den Patentieren.
Vielleicht kommen morgen wieder BesucherInnen vorbei und staunen über die weisse Tisane, den schwarzen Odi und den braunen Tamay. Oder über den massigen Mino, hinter dem sich die putzige Rosa versteckt. Eine solch bunte und vielfältige Herde gibt es nirgendwo sonst!
Der trifftigste Unterschied betrifft jedoch nicht die Optik. Andere Herden dienen der Produktion von Milch oder Fleisch, wie es auch für Odi und Co. vorgesehen war. Das nennt sich dann “Viehwirtschaft”. Für Individualität bleibt da, wie bei den Schweinen, kein Platz.
Tobias Sennhauser
Dieser Artikel erschien erstmals auf tier-im-fokus.ch.